Selbstmitgefühl statt Selbstkritik – der liebevolle Weg zu mehr Gelassenheit

31 Januar 2020 | 0 Kommentare

Meine Freundin steht mit weit aufgerissenen Augen vor mir, starrt mich an und weicht einen Schritt zurück. „Wie blöd kann man eigentlich sein“, höre ich mich sagen. „Da sieht man wieder, wie unfähig du bist und dass du einfach nichts hinkriegst.“

Mit meiner Freundin rede ich natürlich zum Glück nicht wirklich so. (Oder hast du das eben gerade wirklich geglaubt?)

Aber mit mir selbst habe ich früher so gesprochen, wenn etwas schiefging, etwas misslang oder nicht funktioniert hat.

Das war mir viele Jahre nicht bewusst. Ich habe nur gemerkt, dass ich das Leben oft anstrengend und bedrohlich finde. Dass ich das Gefühl habe, in einer großen Unsicherheit zu leben.

Würdest du so mit einer guten Freundin sprechen, die einen Fehler gemacht hat? Wenn sie so richtig was in den Sand gesetzt hat? Und: Was würdest du tun, wenn eine Freundin mit dir spricht?

 

Eine Zeit, in der ich sehr unbarmherzig mit mir war

Die Zeit, in der ich so mit mir umgegangen bin, war nicht leicht. Ich hatte mich von meinem Freund getrennt und zog von Frankfurt nach Ravensburg. Fing einen völlig neuen Job an, in dem ich viel dazulernen musste. Als Pädagogin kämpfte ich mich durch das Dickicht von Projektplanung, Kalkulationen, Briefings und Produktionsplänen.

Eine neue Welt, in der ich Menschen aus Vertrieb und Marketing begegnete, Kalkulationen erstellte und lernte, was Design und Produktentwicklung bei der Herstellung von Spielen machen und was sie von mir als Spieleredakteurin brauchen.

Die ersten Wochen waren für mich wie eine Trekkingtour auf den Kilimandscharo (so stelle ich es mir zumindest vor). Ich war angewiesen auf erfahrene Führer, die die verschlungenen Wege in diesem Unternehmen kannten und mich an der Hand nahmen.

Auch das neue Umfeld in der freien Wirtschaft, in der es um Zahlen, Daten, Fakten und Produkte ging, forderte mich heraus. Die Luft in manchen Meetings war dünn, ich musste mir meinen neuen Platz bei einigen Kollegen erst erkämpfen.

 

Wenn der innere Kritiker die Macht übernimmt und es sich gemütlich macht

Manchmal ging mir dabei die Puste aus, ich schnappte innerlich nach Luft und ich musste akzeptieren, dass ich oft nur kleine Schritte machen konnte, weil ich immer wieder vor Themen stand, auf die ich noch keine Antwort wusste.

In dieser Zeit war meine innere Stimme oft sehr streng. Mein innerer Kritiker hatte die Macht übernommen und wollte sich auch nur ungern vertreiben lassen.

Er fühlte sich ganz in seinem Element, saß gemütlich in seinem großen Sessel der Selbstzufriedenheit neben mir und schüttelte immer wieder den Kopf über mich. Und sagte mit zynischer Stimme „Wenn du so weitermachst, dann wirst du hier nicht alt“. „Pass auf, dass die nicht merken, dass du keine Ahnung hast. Was hast du dir nur dabei gedacht, so einen Job anzunehmen?“ „Wenn das hier nichts wird, dann sieht es düster für dich aus. Nach Frankfurt kannst du nicht zurück“.

Ich kämpfte mich durch die bleischweren Tage, in denen neue Informationen auf mich einprasselten und meine Versagensängste wie Bleigewichte an mir hingen.

Die liebevolle, freundliche und unterstützende Stimme in mir piepste ab und zu dazwischen. An diesen Momenten klammerte ich mich fest. Und dank ihr und vieler netter Kollegen überstand ich diese schwierige Anfangszeit. Und bin heute stolz, dass ich diese große Veränderung gemeistert habe.

 

Selbstmitgefühl: Die Basis für gesundes und liebevolles Wachstum

Hätte ich damals schon gewusst, welche Auswirkungen diese erbarmungslose innere Stimme auf mich und mein Leben hatte, wäre dieser neue berufliche Weg leichter gewesen.

So kostete er mich unendlich viel Kraft, weil ich unbewusst ständig mit diesem kritischen Anteil in mir kämpfte.

Heute weiß ich es zum Glück besser als damals. Und bin auf dem Weg mit einer wunderbaren Freundschaft mit mir selbst, auf dem ich mitfühlend und fürsorglich mit mir umgehe.

Weil ich weiß, dass nicht nur andere Menschen mein Mitgefühl brauchen. Sondern auch ich selbst. Und das Selbstmitgefühl die Basis für ein liebevolles und gesundes persönliches Wachstum ist.

 

Was ist denn eigentlich Selbstmitgefühl?

Selbstmitgefühl ist neben den fünf Basisemotionen (Angst, Trauer, Wut, Freude, Scham) das wichtigste Gefühl für mich. Es ist sozusagen der Boden für die anderen Gefühle, auf dem sie in guter Weise erblühen können.

Oft lassen wir die anderen Gefühle in der Wüste der Selbstkritik und schmerzlichen Bewertung verdorren. Oder wir ertränken sie im Regen unserer Selbstzweifel und Perfektion.

Die meisten Menschen haben Angst vor ihren Gefühlen. Sie wehren sie ab. Weil sie nicht gelernt haben, wie sie damit umgehen sollen. Weil sie Angst haben, in ihnen unterzugehen, von ihnen überrollt zu werden, Dass der Schmerz nie mehr aufhört, wenn sie den Deckel auf dem Fass ihrer Gefühle öffnen.

Sie befürchten, dass der Schmerz und die Verzweiflung zu groß und die Tränen zu viel werden. So geht es vielen meiner Klienten, die seit Jahren vor ihren Gefühlen davonlaufen. Und sich selbst dabei verlieren.

 

Gefühle wollen fließen und brauchen Raum

Am Anfang unseres Lebens dürfen unsere Gefühle fließen. Ein Kind weint, wenn es Schmerzen hat oder traurig ist, schreit aus Angst, jubelt vor Freude, stampft und schreit vor Wut.

Unsere Gefühle wollen gefühlt werden, brauchen Ausdruck. Wir können sie nicht einfach nur durchdenken. Sie wollen sich Raum in unserem Körper nehmen, spürbar werden. Damit sie uns lebendig sein lassen können, uns im Hier und Jetzt verankern und Erfahrungen und Erinnerungen, die uns im Inneren blockieren, aus uns herausfließen können.

 

Wenn wir den Kontakt zu unseren Gefühlen verlieren

In unserer Kindheit lernen wir oft, dass Gefühle schlecht sind, unangebracht, peinlich, störend. Und wir schließen daraus, dass es besser ist, sie in uns wegzusperren. Eine Maske aufzusetzen und so erstarren wir innerlich immer mehr. Verlieren den Kontakt zu unseren Gefühlen. Der Lebendigkeit in uns. Und im Körper sammeln sich immer mehr verdrängte Energien an. Denn Gefühle, die nicht fließen dürfen, sind wie Wassermassen hinter einem Staudamm.

 

Was passiert, wenn wir unsere Gefühle verdrängen?

Bei manchen Menschen brechen sie durch körperliche Schmerzen hervor: Rückenschmerzen, Tinnitus, Magenschmerzen, Schwindel. Unser Körper hat viele Möglichkeiten, der Übersetzer unserer Seele zu sein. Denn die kann sich nur melden, wenn wir mit unseren Empfindungen und Gefühlen verbunden sind.

Andere bekommen Depressionen, können nicht mehr schlafen, ziehen sich immer mehr von anderen Menschen zurück. Sie sind in sich gefangen, weil sie sich selbst ihre Gefühle verboten haben. Immer weiter funktionieren und kaum noch spüren können, was in ihnen vorgeht, was sie wirklich fühlen.

Was uns lebendig macht, stirbt Stück für Stück ab. Denn Gefühle verbinden uns mit uns selbst und mit dem Leben. Sie machen uns zu fühlenden Wesen.

Ohne sie vertrocknen wir innerlich, nehmen uns die Möglichkeit für Wachstum, Entfaltung und Lebendigkeit.  Und fühlen uns wie in einer endlosen Wüste, in der viele Tage sich einfach nur anstrengend und mühsam anfühlen.

Diese innere Wüste kann neu erblühen. Wenn wir uns den Boden des Selbstmitgefühls schenken. Das wärmste und liebevollste aller Gefühle. Der Dünger, der unsere Gefühle zum Erblühen bringt und uns lebendig werden lässt.

Selbstmitgefühl ist wie ein warmer Regen nach einer Dürreperiode. In uns wird es weich, wir verwurzeln uns wieder in uns selbst, finden Halt und können dem was in uns wachsen will Kraft und Raum geben.

 

Selbstmitgefühl ist eine liebevolle Haltung uns selbst gegenüber

Kristin Neff ist weltweit führende Expertin auf dem Gebiet des Selbstmitgefühls.
Sie sagt: Selbstmitgefühl hat die gleiche Qualität wie Mitgefühl für andere.

Geht es deiner Freundin schlecht, fühlst du mit ihr, bietest ihr ein offenes Ohr und deine Unterstützung an. Wenn sie einen Fehler macht, reagierst du verständnisvoll und freundlich und verurteilst sie nicht.

Selbstmitgefühl bedeutet, genau diese freundliche und liebevolle Haltung dir selbst gegenüber einzunehmen. Wenn du gerade sehr kritisch mit dir bist oder dich verletzt und ängstlich fühlst, dann frage dich:

  • Wie kann ich mir selbst helfen?
  • Wie kann ich mich um mich selbst kümmern?
  • Was würde eine gute Freundin zu mir sagen?

So ermöglichst du dir, dich selbst so zu nehmen, wie du bist und deine eigene Menschlichkeit ins Herz zu schließen.

 

Fürsorge statt Selbstkritik

Durch Bewertungen in unserer Kindheit haben wir gelernt, dass Kritik zum Leben dazu gehört. Dass wir durch Kritik auf Fehler aufmerksam werden und uns verbessern können. Das stimmt im Kern auch. Aber Kritik ist nur auf dem Boden von Selbstmitgefühl und einem Bewusstsein unserer Stärken hilfreich.

In den meisten Menschen ist der sogenannte innere Kritiker wie ein ständig knurrender Wolf, der sofort zum Sprung bereit ist, wenn etwas nicht gelingt. Dann fletscht er die Zähne und schlägt zu.

Auf der körperlichen Ebene ist die ständige Selbstkritik (denn nichts anderes tun wir in solchen Momenten) wie eine Bedrohung. Sie aktiviert ein wichtiges Stresszentrum im Gehirn, die Amygdala. Die sorgt dafür, dass der Blutdruck steigt, Adrenalin und Cortisol ausgeschüttet werden und wir uns auf Kampf und Flucht vorbereiten. Kurz gesagt: Sie sorgt für Stress. Nur durch unsere Selbstkritik.

Wenn wir uns selbst – und anderen – stattdessen freundlich begegnen, werden Hirnareale aktiviert, die positive Emotionen und Mitgefühl auslösen. Es werden Oxytocin und Dopamin ausgeschüttet, unsere Wohlfühlhormone.

 

Selbstmitgefühl ist kein Selbstmitleid

Vielleicht denkst du jetzt, dass zu viel Selbstmitgefühl schwach macht. Und du gar nicht mehr aus deiner Komfortzone rauskommst. Dass du dich immer hilfloser und schwächer fühlst und dich nur noch selbst bemitleidet.

Aber es gibt einen großen Unterschied zwischen Selbstmitleid und Selbstmitgefühl. Wenn wir im Selbstmitleid versinken, fühlen wir uns wie ein Opfer der Umstände, denken vielleicht, dass wir allein sind mit unserem Schmerz und lassen uns von unserem inneren Kritiker überzeugen, dass der Schmerz nie enden wird.

Selbstmitgefühl ist eine innere Position der Stärke. Wir bemitleiden uns nicht, sondern unterstützen und ermutigen uns in schwierigen Zeiten. Wir erkennen Schmerz als Teil des Lebens an. Wir nehmen wahr, dass jeder Mensch Zeiten des Schmerzes erlebt. Dass sie vorübergehen und wir in Freude und Leid immer mit anderen Menschen auf dieser Welt verbunden sind.

Leid ist Schmerz, an dem wir festhalten.
Deepak Chopra

 

Wie kann man Selbstmitgefühl lernen?

Selbstmitgefühl ist eine innere Haltung uns selbst gegenüber. Die wir durch viele kleine Schritte im Alltag in uns wachsen lassen können. Die beiden wichtigsten Elemente, um ihr Raum zu geben sind Achtsamkeit und die Verbindung zu unserer Herzintelligenz. Wie man Achtsamkeit im Alltag leben kann, kannst du hier lesen.

Die Verbindung zur Herzintelligenz entsteht durch Meditation, den Blick in unser Inneres, die Verbindung mit unserem höheren Selbst. Mit der Herzmeditation kannst du den ersten Schritt dorthin machen.

 

Welche Schritte du noch tun kannst

– Schaue in schmerzlichen Situationen mit den Augen eines mitfühlenden Freundes auf dich selbst.

– Nimm deine Gedanken achtsam und freundlich wahr und lass sie weiterziehen.

– Achte mehr auf deine Stärken und das, was dir gut gelungen ist.

– Lerne mit deinen Schwächen liebevoll umzugehen und sie als Teil des Menschseins anzunehmen.

Wenn du mehr wissen willst – hier sind zwei Bücher zum Thema Selbstmitgefühl:
Kristin Neff – Selbstmitgefühl
Christine Brähler – Selbstmitgefühl entwickeln

Ich wünsche dir, dass die wunderbare Energie des Selbstmitgefühls dir Boden für ein liebevolles und lebendiges Leben schenkt. Und du mit ihr den Weg zu einer liebevollen Freundschaft mit dir selbst beginnen kannst.

Mit herzlichen Grüßen

 

 

Alexandra

 

Portrait Alexandra Cordes-Guth

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