Jung sieht sie aus und schön. Ihr Blick geht in die Ferne. Neunzehn Jahre alt, gerade dabei, in ihr eigenes Leben aufzubrechen. Aber sie ist schwanger.
Bald wird sie Mutter von Zwillingen, heiratet einen Mann, den sie nur kurz kennt und hat keine fertige Ausbildung. Meine Mutter. Die ich auf den Portraits anschaue, die ein Freund von ihr gemacht hat.
Neulich habe ich auf Facebook einen Beitrag zu ihrem Geburtstag geschrieben. Die vielen wertschätzenden Reaktionen, die Anteilnahme hat mich berührt. Mir gezeigt, dass es viele Menschen gibt, in denen die Beziehung zu den Eltern noch arbeitet.
Deshalb möchte ich diesen Beitrag auch hier teilen. Und dir am Schluss noch ein paar Anregungen mitgeben, die dabei helfen, Frieden mit der Mutter zu schließen.
Schatten auf der Seele
Heute wäre sie 75 Jahre alt geworden. Sie wurde am 6.6.1945 geboren. Ist direkt nach dem Krieg auf diese Welt gekommen.
Sie war eine schöne, kreative, lebenslustige Frau mit vielen künstlerischen Ideen. Und wilden Naturlocken, die man ihr in der Kindheit geglättet und für nicht schön erklärt hat.
Erst später gab es in ihrem Leben wieder Platz für ihre schönen, eigenwillig wilden Haare und ihre Lebendigkeit.
Aber auf ihrer Seele lagen immer wieder Schatten. Das wunderbare Kind, das sie war, bekam keinen Raum um sich zu entfalten. Ihre Eltern bauten nach dem Krieg ihr Leben wieder auf. Mein Großvater kam aus der Kriegsfangenschaft nach Hause.
Konnte über das, was er erlebt hatte, nur schweigen. Arbeitete als Uhrmacher in seinem eigenen Geschäft und war für die Familie kaum da. Es wurde ein Haus gebaut, meine Oma half im Geschäft mit. Für die Kinder war keine Zeit.
Das wilde kleine Mädchen
Meine Mutter hat viel Schmerzliches und Demütigendes erlebt. Spürte, dass sie nur in ihrem Sonntagskleidchen mit den weißen Söckchen erwünscht war.
Das wilde kleine Mädchen, das durch Pfützen sprang, sich mit Brombeerranken Löcher in die Kleider riss und am liebsten mit ihrem Hund im Bett lag.
Ihre Fragen waren nicht erwünscht. Wundervolle Fähigkeiten verkümmerten unter den Beschimpfungen und Entwertungen, die sie so oft zu hören bekam.
Allein mit drei Kindern
Mit 19 wurde sie schwanger – und Mutter von Zwillingen, mir und meiner Schwester. Vier und fünf Pfund schwer. Mein Vater war ein Jahr älter. Beide wollten sie damals ins Leben hinaus. Raus aus ihren Elternhäusern.
Die Ehe war schwierig. Als wir 11 Jahre alt waren, trennten sie sich. Meine Mutter blieb mit uns und unserem zweijährigen Bruder, der noch dazugekommen war allein.
Alleinerziehend in den 70er Jahren. Ohne Ausbildung. Auf Wohnungssuche mit drei Kindern und wenig Geld. Das war nicht leicht. Zum Glück gab es Menschen in einer Kirchengemeinde, die uns unterstützt haben.
Die vielen schönen Erinnerungen
Im Rückblick weiß ich, dass unsere Mutter all ihre Kraft gegeben hat, um uns den Weg ins Leben zu ebnen. Es gab viele schwierige Zeiten mit ihr. Und es gibt viele schöne Erinnerungen.
Oft hatten wir Besuch in unserer großen Altbauwohnung mit den hohen Decken und den alten Holzböden. Saßen um den großen runden Küchentisch, der das Zentrum unserer Wohnung war.
Sie mittendrin, drehte sich selbst eine Zigarette, hörte BAP und trank ihren Äbbelwoi aus einem gerippten Glas. Unsere Freunde mochten sie. Ihre unkonventionelle Art. Dass sie so jung war, gerne lachte und immer eine offene Tür hatte, wenn jemand kommen wollte.
Die großzügige 4-Zimmer-Wohnung mit den vielen alten Möbel fanden alle schön. Obwohl wir kein Geld hatten, um viel zu kaufen.
Mama stöberte am Straßenrand im Sperrmüll und entdeckte damals wunderschöne Stücke, die entsorgt worden waren – nicht modern genug. Bei uns fanden sie einen schönen Platz.
Mit Begeisterung und Freude schleppte sie die schwersten Möbelstücke nach Hause, schliff und strich jedes Teil mit Liebe, hauchte ihm wieder Leben ein. Machte es zu einem Unikat.
Obwohl sie nur 49 Kilo wog und ein zartes Persönchen war, hatte sie ungeheure Kräfte, mit denen sie immer wieder die Zimmer umräumte, schwere Schränke hin und her schob und ein einzigartiges Gefühl für schöne Räume hatte.
Flohmärkte, Second Läden, Kunst und Kultur
Sie liebte es, auf Flohmärkten und in Second Hand Läden zu stöbern – und fand immer wieder wahre Schätze. Fand Designerkleider, in denen sie wie eine Königin ihre Spaziergänge mit uns machte.
Eine gute Köchin war sie, schabte selbst Spätzle, machte rheinischen Sauerbraten (sie kam aus Düsseldorf), bekochte mich auch in meiner vegetarischen Zeit mit viel Liebe. Und probierte auch viele exotische Gerichte aus, an die sich damals sonst noch niemand heranwagte.
Zum Geburtstag bekamen wir immer ein Buch von ihr. Das habe ich von ihr für meine Tochter übernommen. Kultur und Literatur waren ihr wichtig. In Museen zu gehen an einem verregneten Sonntag Morgen – das liebte sie. Yves Klein, Günther Uecker, Blinki Palermo… wenn ich diese Bilder im Städel anschaue, denke ich an sie.
Kriegskind mit traumatisierten Eltern
Nur einmal in ihrem Leben hat sie einen richtigen Urlaub erlebt. Da nahmen Freunde sie mit nach Südfrankreich. Sie saß am Meer, atmete die Weite ein und tanzte Abends barfuß im Garten. Davon hat sie viele Jahre erzählt. Ich hätte ihr mehr davon gewünscht.
Obwohl sie erst nach dem Krieg geboren wurde, war sie ein Kriegskind. Lebte mit traumatisierten Eltern, die ihr Herz für das kleine, künstlerische Mädchen nicht öffnen konnten.
Die wollten, dass sie anständig und brav ist. Als sie ausbrechen wollte, wurde sie Mutter und war in einer Ehe gefangen, die eine Notgemeinschaft mit Überforderung und Gewalt war.
Nachdem sie geschieden wurde, hatte sie keinen Partner mehr. Uns Kinder hat sie über alles geliebt. Das weiß ich.
Auch wenn sie oft an ihre Grenzen kam und wir das verbal und manchmal auch körperlich zu spüren bekamen. Unsere Beziehung war nicht einfach und nicht leicht.
Dazu kannst du mehr in meinem Beitrag „Wie du die Zauberkraft deiner Kindheit wieder entdeckst“ lesen.
Ein paar Jahre hat es Abstand gebraucht, damit manche Wunden wieder heilen konnten. In diesem Abstand konnte ich immer besser sehen, dass die Liebe trotz allem die größte Kraft in ihrem Leben, in unserer Beziehung war.
Wie viele Talente und Fähigkeiten sie an uns weitergegeben hatte.
Schatten auf ihrer Seele
Ihr Leben war ein Auf und Ab. Immer wieder lagen Schatten auf ihrer Seele, verlor sie ihren Lebensmut. Kämpfte mit Depressionen und Ängsten.
Die vielen Existenzsorgen, die sie als geschiedene Frau ohne Ausbildung zu bewältigen hatte, brachten sie oft an ihre Grenzen. Die Ängste ihrer Kindheit, die Selbstzweifel, das Alleinsein nagten an ihr, höhlten sie innerlich aus.
Irgendwann fand sie den Weg aus dieser Dunkelheit nicht mehr heraus. Kam in ein Pflegeheim. Ihr Körper war noch gesund.
Aber ihre Seele war müde. Kurz nach ihrem 60. Geburtstag ist sie gestorben. Einfach so. Ohne Vorankündigung. Hat morgens nicht mehr gelebt, als man nach ihr schaute.
Ich hätte mich gerne von ihr verabschiedet, noch einmal ihre Umarmung gespürt, ihr Parfum gerochen. Aber sie hat sich wohl entschieden, auf ihre Weise ganz still und leise zu gehen.
Jetzt ist es fast 15 Jahre her. Sie fehlt uns. Mir, meiner Schwester und meinem Bruder. Ich bin dankbar, dass sie meine Mutter war und es für immer bleibt.
Happy Birthday Mama. Danke, dass du uns das Leben geschenkt hast.
Frieden mit der Mutter schließen
Es gibt viele Menschen, die Verletzungen auf der Seele haben, von der schmerzhaften Beziehung zu ihrer Mutter, ihrem Vater. Diese Verletzungen können heilen. Müssen nicht mehr ständig weh tun und uns bis ins Innererste treffen.
Wenn du den Wunsch hast, einen Schritt auf diesem Weg zu gehen, kannst du die folgenden Übungen ausprobieren:
#1 Welche Stärken hatte deine Mutter? Schreib auf, was du an ihr schätzt, was du vielleicht von ihr geerbt hast. Denke beim Schreiben nicht zu viel nach, überlass dich einfach deinem Schreibfluss.
#2 Schreibe einen fiktiven Brief an sie, in dem du ihr mitteilst, was du dir von ihr gewünscht hättest, was du gebraucht hättest, was du vermisst hast, was dich verletzt hat. Lass den Brief ein paar Tage liegen. Und lies ihn dir selbst laut vor. Und dann kannst du ihn an einem für dich stimmigen Zeitpunkt verbrennen und dir vorstellen, dass all dieser Mangel und Schmerz sich jetzt in Rauch auflöst, in den Himmel steigt. Und in dir Platz für Neues entsteht.
#3 Mach eine kurze Herzmeditation und stell dir dann innerlich vor, wie sie als Mutter gewesen wäre, wenn sie selbst alles bekommen hätte, was sie ihr als Kind gefehlt hat. Wie diese Version deiner Mutter hinter dir steht und dich stärkt. Weil sie selbst alles in sich trägt, was Liebe und Frieden schenkt.
Diese Übungen haben schon vielen meiner Klienten geholfen. Sie sind kein Ersatz für Therapie. Und wenn du in Therapie bist, dann besprich mit deinem Therapeuten, ob sie für dich gerade richtig sind. Denn sie können sehr intensiv sein. Aber auch sehr heilsam.
Eine besondere Liebe in unserem Leben
Zum Schluss möchte ich noch diesen Text aus meinem ersten Band „Selbstbewusst Sein“ mit dir teilen:
Unsere Eltern sind eine besondere Liebe in unserem Leben. Die oft sehr schmerzlich ist. Unerfüllt, zutiefst sehnsüchtig und verbunden mit dem Kind in uns. Den Schmerz in dieser unerfüllten Liebe zu transformieren und sich selbst ein guter Vater und eine gute Mutter sein – das ist Heilung.
Ich wünsche dir, dass diese wichtige Beziehung in deinem Leben Frieden und Heilung in dir findet. Und du mit einem liebevollen Blick auf euren gemeinsamen Weg schauen kannst.
„Sich selbst eine liebevolle Mutter sein – das ist Heilung.“
Welch wundervolle und entspannende Vorstellung auf dem Weg zum eigenen Selbstbewusstsein und inneren Frieden :-).
Ganz herzlichen Dank für deine kraftvollen und informativen Blogbeiträge.
Das klingt alles sehr vernünftig. Hab ich selbst alles schon gemacht. Meine Mutter (82) lebt noch. Wir haben kein gutes Verhältnis. Mir geht es am besten, wenn ich sie aus meinem Leben heraushalte. Ihre manipulativenEnergien tun mir nicht gut. Ich möchte mich nicht schuldig fühlen, weil ich sie bzw ihre Verhaltensweisen nicht liebe. Ich spüre keine Zuneigung, wenn ich an sie denke Ich bin froh, wenn ich nichts von ihr höre Daran ändert auch die Arbeit mit dem inneren Kind nichts.
Es sollte auch legitim sein, sich von Elternteilen zu distanzieren um des eigenen Seelenfrieden willens.
Sie ist meine Mutter. Und das ist dann auch schon alles.
Liebe Mary, danke für deinen Kommentar. Den Aspekt, den du benennst, finde ich sehr wichtig. Es gibt nicht den einen und einen richtigen Weg, um Frieden mit den Eltern zu schließen. Manche Wunden sind zu tief und schmerzhaft. Da geht es vor allen Dingen darum, unser inneres Kind zu schützen und es nicht immer wieder einem toxischen Feld auszusetzen. Und niemand muss sich schuldig fühlen, wenn er seine Mutter nicht lieben kann. Für mich klingt es so, dass du den für dich besten Weg gefunden hast, indem du auf Distanz gegangen bist. Und das ist dann gut und richtig so. Niemand außer dir selbst kann und darf entscheiden, welcher Weg richtig ist. Danke fürs Teilen. Damit machst du sicher auch anderen Menschen Mut, ihren eigenen Weg zu gehen und in sich hineinzuhören, was für sie und ihr inneres Kind richtig und heilsam ist. Herzliche Grüße Alexandra