Das Thema Wertschätzung begegnete mir zum ersten Mal im Job. In einem Unternehmen, in dem ich lange und gerne gearbeitet habe, gab es einen Spruch, bei dem ich jedes Mal innerlich den Kopf schüttelte und in Wallung geriet.
Wenn beispielsweise über Projekte gesprochen wurde, an denen wir seit Monaten gearbeitet und viel Herzblut investiert hatten. Und ohne Angabe von Gründen die Information kam: Das Projekt wird gestoppt. Dann kam auf unsere Nachfrage die Antwort: Ober sticht Unter.
Heute weiß ich, warum mich dieser Spruch so maßlos geärgert hat. (Und meine Kollegen natürlich auch). Er hatte so gar nichts mit gelebter Wertschätzung zu tun, die aber in der Philosophie des Unternehmens immer kommuniziert wurde.
Seit vielen Jahren beschäftige ich mich inzwischen mit dem Thema Wertschätzung und weiß inzwischen, dass sie die Basis für ein gutes Miteinander im Beruf und im Privaten und für ein gesundes Selbstbewusstsein ist.
Wertschätzung in der Neurobiologie
Ich war wie elektrisiert, als ich den Artikel über Prof. Joachim Bauer und sein Buch „Prinzip Menschlichkeit“ las.
Professor Bauer ist Neurobiologie und schreibt in seinem Buch sehr anschaulich darüber, wie aktuelle neurobiologische Erkenntnisse zeigen, dass Menschen von Natur aus nach Wertschätzung und Anerkennung streben. Und ein gutes und gelingendes Miteinander brauchen, damit die inneren Motivationssysteme anspringen.
Der Wunsch nach Wertschätzung ist also nicht nur eine schöne Idee, sondern sogar körperlich tief in uns verankert. Unser ganzes Hormon- und Nervensystem reagiert positiv auf Wertschätzung und lässt uns zu Höchstform auflaufen.
Wertschätzung muss bei uns selbst anfangen
Die wichtigste Erkenntnis auf meinem eigenen Weg und in meiner Arbeit als Coach: Wertschätzung muss immer bei uns selbst anfangen.
Das wurde mir sehr deutlich, als ein Klient vor mir saß, der zu mir ins Coaching kam, weil er Schwierigkeiten mit seiner Chefin hatte. Ständig kritisierte sie seine Arbeit, wusste alles besser, entschied über seinen Kopf hinweg. Und Lob gab es keins.
Er fragte sich, wie er sie dazu bringen könnte, seine Arbeit in einem positiveren Licht zu sehen und eine bessere Beziehung aufzubauen.
Nach einigen Stunden Coaching schaute er mich an sagte: „Durch unsere Gespräche ist mir etwas ganz klar geworden. Wenn ich mich selbst nicht wertschätze, wird es auch meine Chefin nicht tun. Solange ich auf Lob und Anerkennung von außen warte, mich selbst aber innerlich immer noch kritisiere und in Frage stelle, wird das nicht passieren“.
Er hatte im Coaching erkannt, dass er selbst mit seiner Arbeit auch nie zufrieden war und an sich zweifelte. Und konnte durch diese Erkenntnis damit anfangen, sich selbst wertzuschätzen und seine Einstellung zu sich selbst positiv zu verändern. Und damit auch die schwierige Beziehung zu seiner Chefin.
Er war nicht mehr abhängig von ihrem Lob, sondern konnte jetzt souveräner mit ihrer Kritik umgehen. Das reduzierte viel Stress auf der Arbeit für ihn und half ihm, seinen Job mit mehr Gelassenheit und Freude zu machen.
Wertschätzung und der innere Kritiker
Warum fällt es uns schwer, uns selbst Wertschätzung entgegenzubringen? Das hat in erster Linie mit unserem inneren Kritiker zu tun, der in den 80.000 Gedanken, die uns jeden Tag durch den Kopf gehen, sehr viel Raum einnimmt. Er bewertet, ermahnt, vergleicht und treibt uns an, immer noch besser zu werden.
Mehr über den inneren Kritiker kannst du hier lesen: Die Glückskindstrategie in der Praxis – den inneren Kritiker zähmen.
Er entsteht in unserer Kindheit durch das, was wir von unseren Eltern und Bezugspersonen lernen. Dahinter steckt eigentlich die gute Absicht, dass wir gut durch das Leben kommen, nicht anecken, erfolgreich sind.
Aber leider ist der innere Kritiker so laut und dominant, dass bei vielen Menschen das Selbstbewusstsein sehr leidet und sie voller Selbstzweifel sind. Und keinen inneren Boden für Wertschätzung sich selbst gegenüber haben.
Niemand behandeln wir so schlecht wie uns selbst
„Niemand behandeln wir so schlecht wie uns selbst“, sagt Kristin Neff, eine amerikanische Psychologie Professorin. Viele nörgeln ständig an sich herum und verurteilen sich ohne jedes Mitgefühl.
Kennst du das auch? Dass du immer wieder das Gefühl hast, nicht gut genug zu sein, dich noch mehr anstrengen zu müssen, bei jedem Fehler unbarmherzig mit dir ins Gericht gehst? Dann bist du in guter Gesellschaft. Denn das geht den meisten Menschen so.
In einer Gruppe, in der ich über diese innere Kritik gesprochen habe, die wir täglich selbst an uns üben, waren die Teilnehmer sehr betroffen.
Sie nahmen wahr, wie hart und abwertend sie mit sich selbst umgehen. Und sie waren erleichtert, weil ihnen klar wurde, dass es allen anderen so geht wie ihnen.
Würdest du mit einem guten Freund so sprechen, wie es dein innerer Kritiker mit dir tut? Ganz sicher nicht. Dann würden die meisten Freunde wohl schnell wieder gehen.
Deshalb ist für mich ein wichtiges Ziel von gelebter Wertschätzung, dass wir lernen, uns selbst ein guter Freund zu werden. Dass wir innere Dialoge führen, die mitfühlend und unterstützend sind.
Selbstmitgefühl statt Selbstkritik – die Basis für Wertschätzung
Übertriebene Selbstkritik ist leider gesellschaftlich hoch angesehen, weil sie suggeriert, der Betreffende arbeite hart, um aus sich einen besseren Menschen zu machen. In der Regel erzeugt sie aber Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle und kann im schlimmsten Fall zu Depressionen führen.
Statt einem Gefühl der Wertschätzung entwickelt sich Wert-losigkeit. Es entsteht innerer Stress, weil man versucht, endlich gut genug zu sein und sich für jeden Fehler noch mehr anzutreiben.
Wie wäre es stattdessen gütig und verständnisvoll mit sich umzugehen, so wie wir es für unsere besten Freunde oder unsere Kinder tun würden?
Diese liebevolle und verständnisvolle Art mit sich umzugehen, bezeichnet man als Selbstmitgefühl.
Selbstmitgefühl stärkt die Gesundheit
Mittlerweile zeigen mehr als 220 Forschungsstudien über Selbstmitgefühl eindeutige Ergebnisse: „Selbstmitgefühl schützt vor Burnout-Syndrom und Depressionen, stärkt die Gesundheit und fördert unsere Beziehungen.
Unser Selbstmitgefühl übernimmt in schwierigen Situationen die Rolle eines guten Freundes. Wir lernen es, uns selbst zu unterstützen und wert zu schätzen.
Und wir erkennen, es ist ein Teil der menschlichen Erfahrung Fehler zu machen oder überfordert zu sein. Und schenken uns damit selbst die lebensnotwendige Wertschätzung.
Im Coaching darf ich immer wieder erleben, wie erleichternd und befreiend es für Menschen ist, Mitgefühl mit sich selbst zu haben und liebevoll auf sich selbst zu schauen.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Selbstmitgefühl der Schlüssel für mehr Wertschätzung und damit Lebensfreude, persönliches Wachstum und eine gute Beziehung zu sich selbst und anderen Menschen ist.
Wertschätzung bedeutet Veränderung
Je mehr wir uns selbst wertschätzen, desto mehr können wir auch im außen Wertschätzung erleben. Wertschätzung verändert unsere Beziehungen und unsere Sicht auf die Welt.
Auch in Paarbeziehungen spielt gegenseitige Wertschätzung eine große Rolle und verändert den Umgang und das Miteinander auf positive Weise.
Wertschätzung macht unabhängig und schenkt uns den Mut, zu unseren eigenen Werten zu stehen und authentisch zu bleiben.
Für mich hat es bedeutet, das Unternehmen zu verlassen, in dem ich gearbeitet habe. Weil ich für mich erkannt habe, dass die fehlende Kultur der Wertschätzung nicht zu mir und meinen Werten passt.
Aber ich bin nicht mehr abhängig von der Wertschätzung im Job, weil ich sie mir selbst entgegen bringe. Es ist ein Zeichen der Wertschätzung mir selbst gegenüber, mir ein Arbeitsumfeld zu suchen, in dem ich mich gesehen und gewertschätzt fühle.
Schreibimpuls Wertschätzung
Nimm dir 20 Minuten Zeit und schreibe dir selbst einen Brief. Schreibe diesen Brief aus der Sicht deines besten Freundes. Was schätzt er an dir, welche positiven Eigenschaften und Fähigkeiten nimmt er an dir wahr, wo fragt er dich gerne um Rat, an welche schönen gemeinsamen Erlebnisse denkt er gerne zurück?
Denk beim Schreiben nicht zu viel nach – dabei meldet sich oft der innere Kritiker und lässt dich an dem zweifeln, was du schreibst. Atme immer wieder bewusst durch dein Herz und vertrau dich deinem Schreibfluss an. Und lies dir selbst den fertigen Brief laut vor.
Ich wünsche dir viel Freude auf dem Weg der Wertschätzung
Herzliche Grüße
Liebe Alexandra,
danke für diesen wertvollen Beitrag. Meine Erfahrung ist , dass es schon sehr sehr früh damit los geht …ein Aspekt dieses „inneren Kritikers“ sind die verinnerlichten Erfahrungen aus der Kindheit usw… Das kenne ich gut von mir, Freunden, Kollegen und auch Klienten. Und man muss sich da regelrecht herausarbeiten, es sind wie Hintergrundprogramme, die lange unbewußt laufen.. Ich bin gerade auch wieder einem auf die Spur gekommen, das sich in der Kindheit manifestiert hat. Die Reflektion ist wichtig, dass die Dinge bewußt werden.
Wie schön, dass es inzwischen so viele „Wertschätzer und Ermutiger“ gibt….
Alles Liebe Dir und Deinen Klienten auf dieser Reise.
Ich zitiere gerne Bodo Janssen : „Häufig habe ich erlebt, dass mutige Vorhaben junger Menschen belächelt werden und ihnen vieles nicht zugetraut wird. So bekommt ein junger Mensch bis zu seinem 18. Geburtstag von seinen Eltern, Lehrern, Trainern und Ausbildern mehrere 10.000 Mal gesagt, was er alles nicht kann. Sie bekommen dann das „aufgedrückt“, was diese vermeintlichen Vorbilder sich im Leben selbst nicht zugetraut, selbst verpasst oder nicht erreicht haben“.
(You tube upstalboom – Tour des Lebens)
…Herzlich Antje