Eine einfache Übung – die doch nicht so einfach ist
Es hörte sich ganz einfach an: Wir sollten einem Partner im Seminar 20 Minuten in die Augen schauen. Da konnte man nichts falsch machen, einfach atmen und gucken. Dachte ich.
Die ganz Gruppe rückte ihre Stühle zurecht, leises Gemurmel und Gelächter, bis jeder bereit war. Der Seminarleiter läutete eine kleine Glocke, ihr heller Ton sorgte für Ruhe und die Übung begann.
Es gab keine Uhr weit und breit. Wir sollten nicht sehen, wie viel Zeit vergangen war. Der blasse, ernste Mann, der mir gegenüber saß, schaute mich mit versteinertem Gesicht an. Ich lächelte und hoffte, dass ihn das ein wenig auftauen würde.
Die Sekunden tropften zwischen uns herunter und ich spürte, wie mein Gesicht erstarrte. Mein Lächeln verflog, meine Augen brannten. Wilde Gedanken meldeten sich. Fluchtgedanken, Panik, Unwohlsein.
Ich konnte seinem Blick nicht entfliehen und fragte mich, was er wohl sah, während er mich so intensiv anschaute, in meine Augen blickte. Ich fühlte mich schutzlos und ausgeliefert. Die Zeit schien mir endlos. Auch in seinen Augen sah ich Anspannung.
Wer bin ich unter meiner Schutzschicht?
Die übliche Schutzschicht, die wir im Alltag vor uns hertragen, zerfiel in kleine Stücke. Ich fühlte mich in die Enge getrieben wie eine Maus, die von der Katze gejagt wird und kein Schlupfloch mehr findet.
Mir wurde bewusst, wie kurz ein üblicher Augenkontakt im Alltag ist. Oft nur einen Wimpernschlag.
Was mit mir passiert, wenn ein wildfremder Mensch mir so lange in die Augen schaut. Ich seinen Blicken nicht ausweichen kann, ihn mit etwas von mir ablenke, was ich sage.
Es tauchte auch die Frage auf: Wer bin? Gibt es für Andere überhaupt etwas zu sehen? Etwas bemerkenswertes, interessantes, einzigartiges?
Mein Mäuse-Ich wurde immer kleiner und piepsiger. Und hätte sich am liebsten ganz in Luft aufgelöst.
Mein wahres Selbst – einzigartig oder fehlerhaft?
Würde meine tiefste Angst wahr: Der Mensch vor mir sieht, dass da nicht viel ist. Alles nur Schein. Und innendrin eine Anhäufung von Halbwissen, (mein Abitur habe ich ja sowieso nur mit viel Glück geschafft), schlechten Angewohnheiten, Ängsten, Unvollkommenheiten. (Eigentlich kann ich sowieso nichts richtig, alles nur ein bisschen).
Es waren sehr lange 20 Minuten. Die mich tief eintauchen ließen in die Frage: Wer bin ich eigentlich? Was sehe ich in mir selbst? Was sehen andere in mir? Was macht mich aus? Es ging um meine Essenz, um mein wahres Selbst.
Ich verstand, dass ich mein wahres Selbst, meine Essenz für fehlerhaft und nicht liebenswert hielt. Und wollte mich damit nicht zufriedengeben.
In den letzten Jahren habe ich in vielen Übungen, Meditationen und Gesprächen mehr über meine Essenz gelernt. Den Kern meines Selbst.
Ich begann zu ahnen: Meine Essenz ist wunderbar und einzigartig. Sie war und ist für mich wie ein magischer Schatz, dessen Leuchten und Schimmern ich immer wieder durch den Nebel meiner Gedanken leuchten sehen kann.
Manchmal kann ich sogar schon etwas davon be-greifen. Ein kleiner Diamant, der mir mit seinem Funkeln eine Ahnung davon schenkt, was für ein großes Licht in diesem Schatz noch steckt.
Die Frage nach deiner Essenz
Fragst du dich auch manchmal: Wer bin ich eigentlich? Was zeichnet mich aus?
Das ist die Frage nach deiner Essenz. Das was dich im Innerersten deines Seins ausmacht. Das was du wirklich bist. Abseits deiner Ängste und all den limitierenden Dingen, an die du glaubst.
Wenn du dich dieser Frage stellst, wird es wahrscheinlich keine schnellen und einfachen Antworten geben. Antworten, die der Verstand gerne hätte, damit er sie sicher in Schubladen packen kann. Um sie bei passenden Gelegenheiten schnell wieder zu öffnen.
So eine scheinbare Sicherheit zu erschaffen, die uns Halt gibt. Aber auch erstarren lässt in den oberflächlichen Vorstellungen und Bildern, die wir von uns selbst haben.
Und bevor du zu deinem strahlenden Selbst kommst, werden zuerst viele piepsige Mause-Ichs zum Vorschein hervorgekrochen kommen, die auf der Flucht sind.
Auf der Suche nach einem Mauseloch, in dem sie vor den Blicken der Anderen schnell verschwinden können und sich sicher fühlen.
Was uns näher zu unserer Essenz führt
Der Weg zu unserer Essenz ist sehr vielfältig. Manchmal merken wir mittendrin schon, dass wir auf eine Schicht in uns stoßen, die wir vorher noch nicht bemerkt haben.
Manchmal wird uns erst im Rückblick klar, dass wir uns selbst ganz neu begegnet sind.
Schritte auf dem Weg zu unserer Essenz:
#1 Alle Krisen, denen wir uns stellen und die wir bewusst durchlegen.
#2 Alle Herausforderungen, die wir als Entwicklungsaufgabe annehmen.
#3 Jeder Moment der Stille, des Innehaltens und des wirklich ganz bei uns seins.
#4 Jedes Gefühl, dem wir voll und ganz Raum geben und es durch uns hindurchfließen lassen, statt es mit dem Kopf zu verstehen.
#5 Schritte auf dem Weg zu unserer Berufung, zu dem Bereich unseres Lebens, der uns all unsere Talente und Fähigkeiten in die Welt bringen lässt.
#6 Jeder Kontakt mit unserer Herzintelligenz und der Kraft der Liebe in uns.
#7 Kontakte mit Menschen, mit denen wir uns zutiefst verbunden fühlen.
#8 Alle Erfahrungen, die erfüllt sind von Mitgefühl mit uns selbst und anderen Menschen.
#9 Jede Erkenntnis, die vom Kopf ins Herz gerutscht ist und uns das Leben neu verstehen lässt.
Raum für meine Essenz im Alltag
Immer wieder in meine Essenz einzutauchen und ihr näherzukommen heißt für mich:
Ich halte regelmäßig inne, gehe in die Stille und nehme wahr, was ist. Ich lasse meine Gedanken und damit alle Bewertungen los.
Ich verbinde mit meinem Herzen und gebe Liebe und Mitgefühl Raum.
Dadurch entsteht für mich ein Raum der Spiritualität in meinem Leben. Ich komme in Kontakt mit einer Energie, einer Kraft, die über das hinausgeht, was ich im Alltag sehen, hören und fühlen kann.
In dieser Energie spüre und erlebe ich meine Essenz gleichzeitig zart und kraftvoll. Sie gibt mir Halt und schenkt mir Weite. Sie schenkt mir für einen Moment die Gewissheit, dass alles genau richtig ist, so wie es ist.
In seiner Essenz sein
Auf dem Weg zu meiner Berufung habe ich in den letzten Jahren unglaublich viel über mich und meine Essenz gelernt.
Das, was mir wirklich wichtig ist, was mich ausmacht, was mir Energie schenkt, mich über mich selbst hinauswachsen lässt.
Aber nicht alles auf dem Weg zu meiner Essenz waren Erfolge und Fortschritte. Es gab auch Rückschritte und Misserfolge. Aus Sicht des Verstandes.
Wenn ich heute mit den Augen des Herzens auf meinen essenziellen Weg schaue, sehe ich, dass in mir immer mehr Vertrauen und Liebe gewachsen ist.
Dass die Ergebnisse immer weniger wichtig werden. Sondern das wichtig ist, was ich dabei über mich selbst erkenne.
In seiner Essenz zu sein – das ist ein immerwährendes Wachsen und Erblühen aus uns selbst heraus.
Alles was wir denken, fühlen und tun wird zu einer wichtigen Erfahrung. Die uns wieder näher zu uns selbst hin trägt.
Und immer mehr mit uns selbst in Liebe verbindet. Und auf diesem Boden wächst unser wunderbares Sein mitten in die Welt hinein.
Mach dich auf den Weg zu deiner Essenz
Was ist deine Essenz? Was zeichnet dich aus? Was hindert dich daran, es herauszufinden, dich zu dir selbst auf den Weg zu machen?
Lass alle alten Bilder und Vorstellungen von dir los. Schau in dein Inneres und lass die Ängste und Zweifel vorüberziehen.
Vertraue der Stille, in der sich die Stimme deines Herzens melden wird. Die dir immer wieder zuflüstern wird, wer du wirklich bist.
Geschichte von der Frau des Bürgermeisters
Und zum Schluss habe ich noch eine Geschichte für dich, in der eine Frau sich auf den Weg zu ihrer Essenz macht:
Wer bist Du?
Es war einmal eine Frau, die schwer erkrankt war und im Koma lag. Die Zeit verstrich, ohne dass sie wieder zu sich kam. Auf einmal erschien es ihr so, als sei sie nun tot, als befände sie sich im Himmel und stände nun vor einem Richterstuhl.
„Wer bist du?“ fragte eine Stimme.
„Ich bin die Frau des Bürgermeisters“ antwortete die Frau.
„Ich habe nicht gefragt, wessen Ehefrau du bist, sondern, wer du bist.„
„Ich bin Mutter von vier Kindern.“ entgegnete die Frau.
„Ich habe dich nicht gefragt, wessen Mutter du bist, sondern wer du bist.“
„Ich bin Lehrerin.“ gab die Frau zur Antwort und ihre Stimme schwankte etwas.
„Ich habe auch nicht nach deinem Beruf gefragt, sondern wer du bist.“
„Ich bin Christin.“ sagte die Frau, nun schon ziemlich ratlos.
„Ich habe dich nicht nach deiner Religion gefragt, sondern wer du bist.“
Und so ging es immer weiter. Alles, was die Frau erwiderte, schien keine befriedigende Antwort auf die Frage „Wer bist du?“ zu sein.
Die Frau war aber keineswegs tot, sondern erwachte wenig später aus dem Koma. Zum Erstaunen aller wurde sie wieder gesund. Sie beschloss nun, der Frage „Wer bist du?“ auf den Grund zu gehen und auf die Suche zu gehen, herauszufinden, wer sie wirklich war.
nach Anthony de Mello
Mach dich auf deinen Weg zu deiner Essenz, finde heraus, wer du wirklich bist.
Und sei dir sicher: Es erwartet dich etwas Wundervolles.
Herzliche Grüße
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