Warum wir uns selbst immer wieder vergeben dürfen

27 Dezember 2020 | 6 Kommentare

Vorsichtig öffnete ich das Küchenfenster, schaute mich noch einmal um und tauchte den Löffel genüsslich in den frischen Nudelsalat, den meine Mutter frisch gemacht hatte und der dort noch abkühlen sollte.

Ich war acht Jahre alt und für mich war es der beste und leckerste Nudelsalat der Welt. Ich konnte es einfach abwarten davon zu probieren, die kleinen Gurkenstückchen und die warme Fleischwurst zu schmecken. Ich hörte Schritte, steckte den Löffel in die Hosentasche und schloss schnell das Fenster.

Die Schüssel vor dem Fenster fing an zu rutschen. Und fiel in die Tiefe, aus dem zweiten Stock unaufhaltsam hinunter in den dunklen Hinterhof. Mein Herz stand still und ich wünschte, ich hätte es nicht getan, nicht heimlich genascht, wäre nicht so gierig gewesen.

Mein Bauch war verknotet und wurde heiß. Mir kamen die Tränen. Ich schämte mich und hatte Angst. Meine Mutter hatte sich solche Mühe mit dem Nudelsalat gegeben, mein Vater freute sich schon darauf. Und weil ich so gierig war, lag er jetzt unten im Hof. Und ganz sicher würde es jetzt gleich ein großes Donnerwetter geben…

 

Die guten Vorsätze

In meinem Leben gab es noch viele Nudelsalat Situationen, in denen ich mir gewünscht habe, ich hätte anders gehandelt. In denen ich voller Angst, Scham und Reue war. Und mir vornahm, mich in Zukunft nur noch korrekt und perfekt zu verhalten, den gierigen, vorlauten, egoistischen, gemeinen Impulsen in mir nicht mehr nachzugeben.

Das hat natürlich nicht funktioniert – obwohl ich voller guter Vorsätze und guten Willens war. Ich habe andere Menschen trotzdem mit unbedachten Äußerungen vor den Kopf gestoßen, habe Fehler mit Notlügen vertuscht, bin rechthaberisch gewesen, wurde meiner Tochter gegenüber laut und habe sie angeschrien. (Das ist einer meiner Fehler, den ich mir selbst am schwersten vergeben konnte)

Jede Menge Nudelsalatschüsseln, die unaufhaltsam in die Tiefe meiner Seele fielen. Und mir wieder zeigten, wie unperfekt und schlecht ich bin. Nach solchen Abstürzen dauerte es lange, bis ich wieder mit mir im Reinen war.

Mein innerer Kritiker ließ nicht locker und hielt mir tagelang mein Versagen vor. Und ich ließ mir viele Jahre von ihm einreden, dass ich lernen müsste, keine Fehler mehr zu machen.

Immer wieder fühlte ich mich schuldig und konnte mich oft tagelang innerlich nicht von den Gedanken lösen, die um die Fehler kreisten.

 

Sich selbst vergeben

Es dauerte viele Jahre, bis ich begriff, dass es im ersten Schritt der inneren Veränderung nicht um das Besserwerden geht. Nicht um das Perfekt werden. Sondern um Selbstmitgefühl und Selbstvergebung.

Nur wenn ich mich selbst innerlich in den Arm nehme, kann sich mein Nervensystem entspannen, kann ich durchatmen und Kraft sammeln für ein anderes Verhalten.

Solange ich in Gedanken der Verurteilung und Abwertung steckenbleibe, bleiben die eigenen Schuldgefühle der steinige Boden für Wachstum und Veränderung, auf dem nur schwer etwas gedeihen kann.

Damit wir selbst uns entfalten können, müssen wir uns immer wieder selbst unsere Fehler vergeben. Wir dürfen unsere Fehler loslassen und aus ihnen lernen.

 

 

Die eigene Ohnmacht akzeptieren

Das Problem beim Prozess der Selbstvergebung ist nicht die Schuld an sich, wie die Psychoanalytikerin und Trauma-Expertin Luise Reddemann sagt, sondern die Schuldgefühle. Wer sich in ihnen fallen lasse, hänge in der Vergangenheit fest, halte sich nicht für wert, ein gutes Leben zu führen, suche nach ständiger Selbstbestrafung.

 

Das abzustreifen falle besonders schwer, weil wir uns eingestehen müssten, dass wir als Mensch ein begrenztes Wesen sind, das Fehler macht. „Aus meiner Erfahrung ist es das, was uns Menschen am allerschwersten fällt, die eigene Ohnmacht zu akzeptieren“, sagt Reddemann.

 

Bei sich selbst ankommen dürfen

Wenn wir uns selbst vergeben, schließen wir Frieden mit den Anteilen in uns, mit denen wir uns mangelhaft fühlen, die wir am liebsten vor der Welt verstecken möchten, die endlich verschwinden sollen.

So lang wir versuchen sie loszuwerden, sind wir nicht wirklich bei uns selbst angekommen, sondern laufen immer wieder vor uns selbst davon. Lassen uns selbst im Stich, gerade dann, wenn wir uns selbst am nötigsten brauchen.

Sich selbst vergeben  heißt nicht, die eigenen Fehler auszublenden, sie nicht wahrhaben zu wollen. In der Selbstvergebung übernehmen wir die Verantwortung dafür, erkennen an, dass wir genau wie alle anderen Menschen Fehler machen.

Wir lassen Selbstvorwürfe los und wenden uns Stück für Stück den Lösungen und unserem Wachstum zu.

 

Selbstvorwürfe verursachen Schmerzen

Eine besonders wichtige Rolle spielt das Loslassen von Selbstvorwürfen in der Schmerztherapie. Die Gate Control Theorie von Melzack und Wall beruht auf der Tatsache, dass angenehme Empfindungen (Berührung, Streicheln) und Schmerzwahrnehmung von denselben Nervenbahnen übertragen werden.

 

Ob ein Signal als schmerzhaft empfunden wird, entscheidet ein Mechanismus im Gehirn, der ab einer gewissen Schwelle Alarm schlägt. Selbstvorwürfe, hadern mit eigenen Entscheidungen das durchspielen vergangener Ereignisse verstärken den Schmerz.

 

Schmerzlindernd wirken menschliche Zuwendung, Ablenkung, Musik, lesen, Entspannung, Meditation, vor allem aber ein positives Verhältnis zu sich selbst.

 

Die eigenen Fehler als Teil des Menscheins akzeptieren

Auch in diesem Jahr gibt es Situationen, in denen ich Fehler gemacht habe. Sie stürzen mich nicht mehr in dunkle, innere Abgründe. Und ich kann den Nudelsalat inzwischen immer öfter auffangen und festhalten, weil mich nicht sofort Angst und Scham im Griff haben.

Mein innerer Kritiker bäumt sich immer noch auf und erhebt seine Stimme, wenn ich etwas falsch mache. Aber ich kann auf die Seite des Selbstmitgefühls und der Selbstfürsorge wechseln. Und ihn so immer leiser werden lassen.

Damit ich mir selbst vergeben kann, darf ich noch einmal mit offenem Blick auf das vergangene Jahr schauen und mich fragen, welche Fehler mich noch bedrücken und belasten. Sie als Teil meines Menschseins akzeptieren und erkennen, dass gerade mein fehlerhafter und beschämter Teil mein Mitgefühl und meine Unterstützung braucht.

 

Heilsames Schreiben – Dir selbst vergeben dürfen

Du kannst als Unterstützung für das heilsame Schreiben (eine meiner Lieblingsmethoden im Coaching) diese geführte Meditation hören. Aber du kannst auch gleich mit dem Schreiben anfangen und die Meditation später anhören. Schau, wie es für dich passt.

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Schreibe zehn Minuten alles auf, was dir zu dieser Frage einfällt:
Welche Fehler, die du dieses Jahr aus deiner Sicht gemacht hast, wirfst du dir selbst noch vor? Was nimmst du dir übel, wo spürst du Scham und Reue?

Nimm ein neues Blatt Papier und schreibe dir selbst aus deinem weisen und liebevollen Ich, warum du dir diese Fehler vergeben und innerlich frei werden darfst. Und welche Energien und Möglichkeiten dadurch freiwerden.

Lies dir diesen Brief dann selbst laut vor und lass die liebevollen und unterstützenden Worte bei dir ankommen.

 

Ich wünsche dir, dass du dieses Jahr für dich friedvoll abschließen kannst und loslasssen darfst, womit du dir selbst vielleicht noch Steine in den Weg legst.
Auf dem Weg zu einer wunderbaren Freundschaft mit dir selbst.

 

 

Alexandra

 

Portrait Alexandra Cordes-Guth

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6 Kommentare

  1. Liebe Frau Cordes-Guth, es ist das 1. Mal, dass ich den newsletter erhalten habe, nachdem ich mich mehrfach eingetragen hatte und der Inhalt passt sehr zu der 4. Rauchnacht 😉 – die Meditation ist wunderbar und ich freue mich sehr, dass es endlich geklappt hat und ich die Nachrichten erhalte. Ich wünsche Ihnen noch geruhsame Tage, einen schönen Jahreswechsel und ein gesundes und fröhliches neues Jahr!

  2. Liebe Alexandra,
    vielen Dank für Deine guten Gedanken und Impulse. Das Fehlermachen, sich diesem zu stellen und sich seine Fehler liebevoll zu vergeben ist ein lebenslanger Prozess. Deine Meditation und Dein Schreibimpuls dazu sind ein ganz wunderbarer Begleiter dabei.

  3. Liebe Alexandra, vielen Dank für Deine Worte . Hab gerade wieder damit zu tun, Als ich vor 32 Jahren meine Johanna auf die Welt bringen musste weil sie in mir gestorben ist.Es war die 17.SSW die Hebamme hat gesagt ich soll sie nicht ansehen. Und heute kommt diese Situation wieder, ich hab Dich nicht angeschaut mein Kind, ich hab Dich nicht berührt, ich hab mich nicht gekümmert was mit Dir passiert. Ich bin dabei mir zu vergeben und ich bete aber es ist nicht einfach. Die Tränen laufen während ich schreibe das ist gut. Danke das ich mich Dir mitteilen kann in diesem Moment.

  4. Liebe Frau Brabenec, wie schön, dass es geklappt hat. Ich kümmere mich diese Woche darum, dass die Newsletteranmeldung wieder besser funktioniert. Die Technik ist im Online-Business immer wieder tückisch. Ihnen auch noch geruhsame Tage, viel Freude mit meinen Beiträgen und Meditationen und ein gesundes und gesegnetes neues Jahr für Sie! Herzlichst – Alexandra Cordes-Guth

  5. Liebe Margaretha, danke für deine Rückmeldung. Ja, das Fehlermachen und die Akzeptanz, dass wir fehlermachende Wesen sind ist wirklich ein lebenslanger Prozess. In der Theorie spricht sich so leicht darüber. Aber in der Praxis ist es immer wieder eine neue Herausforderung. Freut mich, dass dir die Meditation und der Schreibimpuls gefallen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich die Themen mehr setzen und verinnerlichen, wenn man selbst noch damit arbeitet und in der Meditation das Unbewusste einlädt, einen zu unterstützen. Liebe Grüße Alexandra

  6. Liebe Dolores, danke fürs mit-teilen. Wenn diese schmerzlichen Situationen sich zeigen, dann dürfen sie meist in Liebe loslassen. Und die Tränen, die uns dabei begleiten sind wie eine innere Reinigung und Heilung. Für mich fühlt es sich so an, als ob du damals selbst mit der Situation und deinem Schmerz überfordert warst. In der Traumatherapie würde meinen von Erstarrung (dem Freeze Zustand) sprechen. In diesen Momenten sind wir nicht mehr handlungsfähig, fühlen uns ohnmächtig und ausgeliefert. Dann funktionieren wir nur noch automatisch und tun das, was von uns erwartet und verlangt wird. Ich wünsche dir von Herzen, dass du dir selbst im Nachhinein Liebe und Mitgefühl entgegenbringen kannst. Und vielleicht sogar den Gedanken loslassen kannst, dass es dein Fehler war, sie nicht mehr anzuschauen. Du hast damals alles so gut gemacht, wie du konntest. Und warst selbst sicher voller Schmerz und Trauer. Vielleicht begegnet dir Johanna in der Meditation noch einmal und ihr könnt dort Abschied nehmen. Ganz liebe Grüße Alexandra

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